Jean-Pol Martins Blog

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Konzeptualisierung als Glücksquelle.


Resume Seit kurzem scheint mir, dass nicht nur die Informationsverarbeitung sondern vor allem die Konzeptualisierung Glücksgefühle hervorruft! Das Unterrichtssetting soll permanente Konzeptualisierung bei Schülern und Studenten anregen.

1. Informationsverarbeitung und Glück

Lange Zeit war ich der Auffassung, dass ein zentrales Grundbedürfnis über die von Maslow beschriebenen Bedürfnisse hinaus die Informationsverarbeitung sei. Das war auch richtig. Ohne permanente Informationsverarbeitung sind Lebewesen nicht in der Lage, sich an die Veränderungen der Umwelt anzupassen und sie sind nach kurzer Zeit nicht mehr lebensfähig. Daher ist auch der Prozess der Informationsverarbeitung im Gehirn positiv verknüpft: es macht Spaß, Informationen zu verarbeiten. Allerdings nicht jede Information. Es bedarf einer bestimmten Beschaffenheit der Stimuli:

– Quantität: nicht zu hoch (Überforderung) nicht zu niedrig (Unterforderung)

– Komplexität: nicht zu komplex (Überforderung) nicht zu niedrig (Unterforderung)

– Tempo: nicht zu hoch (Überforderung) nicht zu niedrig (Unterforderung)

Wer mehr über die Eigenschaften von besonders motivationsförderlichen informativen Stimuli erfahren will, findet in Portele (1975) sehr präzise Beschreibungen.

2. Informationsverarbeitung und Kontrolle

Die Informationsverarbeitung ist nicht das Ziel, sondern nur Mittel. Tatsächlich ist das alles überragende Ziel die Lebenserhaltung. Und alle Handlungen, die zur Lebenserhaltung beitragen, müssen emotional mit starken positiven Gefühlen verknüpft werden, damit der Organismus motiviert wird, diese Handlungen auch unter großen Anstrengungen  durchzuführen. Dies gilt für alle lebenserhaltenden Funktionen wie auch die Nahrungsaufnahme oder den Geschlechtsverkehr. Auf der emotionalen Ebene münden alle diese lebenserhaltenden Handlungen, wenn sie erfolgreich sind, in ein Erlebnis, das alle anderen einschließt und überragt: das Gefühl der Kontrolle! Dieses Kontrollgefühl findet seinen Höhepunkt in dem von Csikszentmihalyi beschriebenen Floweffekt. Wenn er die absolute Kontrolle erreicht, belohnt sich der Organismus selbst mit dem größten emotionalen Pick, den er zur Verfügung hat: mit dem Flow!

3. Konzeptualisierung, Kontrolle und Flow

Seit längerer Zeit beobachte ich an mir selbst, dass zwar Informationsverarbeitung mit positiven Gefühlen verbunden ist, dass aber vor allem die Konzeptualisierung mit Flow belohnt wird. Unter Konzeptualisierung verstehe ich die Erstellung von kognitiven Schemata die umfangreiche Informationen zu kompakten, handlungsmotivierenden Modellen bündeln. Hier ein paar Beispiele: in meiner Uni-Zeit habe ich gerne Überblicke angeboten: die Geschichte der französischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, die Geschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart usw. Solche Überblicke zu erstellen bedeutete eine sehr harte Arbeit der Komplexitätsreduktion. Ähnliches galt für Stadt- oder Museumbesuche, die ich im Schweinsgalopp (strait to the essentials) mit den Schülern zu deren großen Belustigung durchführte (z.B. Le Louvre in 30 Minuten). Jetzt im Ruhestand macht es mir besonders Spaß, Hegel oder Schopenhauer in jeweils 20 Minuten meinen Philosophiegruppen vorzustellen. Auch das setzt Konzeptualisierung voraus. Durch eine enorme intellektuelle Anstrengung gelingt es mir, einen hochkomplexen Stoff so zu reduzieren und komprimieren, dass ich ihn spielerisch meinen Hörern vermitteln kann. Die Teilnehmer loben besonders den lustverschaffenden Charakter dieser Einheiten. Der Flow, der bei mir entsteht, möchte ich näher beschreiben (am Beispiel der Vermittlung von Hegel):

Sehr wichtig ist, dass man von Anfang an die Gruppe vor Augen hat, der man das Wissen vermitteln wird, denn die im Geiste vorweggenommene Freude der Adressaten motiviert zu der Anstrengung, die man sich als Dozent auferlegt.

– 1. Stufe: die Masse der zu beherrschenden Informationen (Hegels Leben und Werk) vermittelt zunächst ein Gefühl der Hilflosigkeit

– 2. Stufe: Es werden erste kleinere Wissenseinheiten erstellt, so dass die Kontrolle in Teilbereichen wächst (man versteht, was Hegel unter An-Sich-Sein, Anders-Sein und An-und-für-Sich-Sein meint:-)). Allerdings überwiegt noch das Gefühl der Hilflosigkeit.

– 3. Stufe: Schrittweise werden Verständnislücken geschlossen. Auch sperrige Begriffe (An-und-für-Sich-Sein) werden allmählich zu spielerischen Objekten, die man später den Teilnehmern repetitiv zur Belustigung anbieten wird. Man freut sich schon im Voraus und der Flow gewinnt an Fahrt.

– 4.Stufe: Die einzelnen, zunächst getrennten Wissensbausteine (z.B. bei Hegel der „subjektiver Geist“, der   „objektiver Geist“, der „absoluter Geist“) werden zusammengefügt und es entsteht ein Gesamtgebilde, das zur Präsentation drängt. Man möchte seiner Gruppe unbedingt den lustigen Hegel vorstellen. Vom subjektiven Flow, zum objektiven Flow und zum absoluten Flow!:-))

– 5.Stufe: Die Handlungskomponente: wichtig ist, dass die vermittelten kognitive Schemata (Hegels Gedanken) zur Handlung drängen. Die Teilnehmer verstehen beispielsweise Hegels Dialektik und wenden dieses Prinzip bei der Interpretation  ihrer eigenen Alltagswelt an. Da sie Hegel „verstanden“ haben und „kontrollieren“, wollen sie ihn im Anschluss weitergeben, usw… Flow -> Flow-> Flow…

Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Informationsverarbeitung zwar einen Beitrag zur Kontrolle liefert, aber die umfassende, lebenserhaltende und lebensförderliche Kontrolle lässt sich stabil erst durch permanente Konzeptualisierung erreichen.

4. Methodische Implikationen für Schule und Hochschule

Natürlich fördern die im Zuge der Digitalisierung entwickelten neuen didaktischen Konzepte die Informationsverarbeitung auf Seiten der Schüler und Studenten. In diese Richtung würde ich das Konzept des flipped-classroom einordnen. Es stellt sich aber die Frage, ob  diese Methoden ausreichend das Konzeptualisieren einüben und mit Floweffekt belohnen. Will man die aktuelle und künftige Kontrollfähigkeit der Lerner systematisch trainieren, so bietet sich beispielsweise Lernen durch Lehren an, bei dem von Anfang an der Blick der Studenten auf eine (möglichst vergnügliche) Vermittlung des Stoffes an ihre Mitstudenten gerichtet ist.

Fazit: Schüler und Studenten sollten daran gewöhnt werden, nicht nur Informationen zu verarbeiten, sondern aus diesen Informationen handlungsleitende Konzepte zu erstellen. Das Konzeptualisieren wird von Flow begleitet. So kann schrittweise Kontrollkompetenz aufgebaut werden. Dazu scheint Lernen durch Lehren eine gute Methode zu sein.

Visualisierungen von Raffaellina Rossetti:

Dieser Blogartikel wurde einige Jahre später zu einem umfangreicheren ausgebaut: hier der Link dazu „Lernen durch Lehren: Konzeptualisierung als Glücksquelle“

Veröffentlicht wurde er in:

07336000


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47 Antworten zu “Konzeptualisierung als Glücksquelle.”

  1. Dem ist fast nichts hinzuzufügen. 🙂 Und deine Kritik am Flipped Classroom kommt vollkommen zurecht: Seit einiger Zeit „gefällt“ mir das Modell „Input + Anwenden“ nicht besonders gut, und dieses Modell wird durch den Flipped Classroom begünstigt. Daher werde ich zukünftig eher „aufgabenbasierte Vorbereitungen“ durchführen, und das entspricht exakt dem, was du hier beschreibst: Studierende bekommen komplexe, reichhaltige Situationen geboten, in denen sie selbst zunächst einmal mathematische Konzepte bilden müssen / wiedererkennen müssen / … Anschließend (im Plenum) werden diese Erfahrungen dann gemeinsam systematisiert.

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  2. Vielleicht noch ein Nachtrag: Der Flipped Classroom ist gut, um „traditionell denkende Dozenten“ (inkl. mir) zunächst in einem Schritt hin zur Lernendenzentrierung zu bewegen. Es stellt sich dann aber ein Unzufriedenheitsgefühl ein (nur oberflächliche Verarbeitung des Inputs, Begünstigung des Lernens ohne Verständnis, …) … dann kommt der Drang, die eigenständige Konzeptualisierung bei den Studierenden zu fördern… etwas, das m.g. beispielsweise schon immer macht, ich aber noch zu sehr „verhaftet“ bin an der „Mitteilung“… und dann bieten sich verschiedene Modelle an (wie beispielsweise LdL in den Sprachen und darüber hinaus, Formen entdeckenden Lernens in der Mathematik, ….)

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  3. @dunkelmunkel
    Super! Wie du ahnst hatte ich keine gruppe im blick, als ich in den letzten tagen konzeptualisierte, sondern dich!:-) Ich wusste, das würde handlungsmotivierende wirkung haben. Aber du warst ohnehin auf diesem weg. Vielleicht bringt mein beitrag die sache theoretisch auf den punkt und liefert die möglichkeit, dies auch begrifflich zu propagieren, so wie es besonders mit „neuron“ gelungen ist. Ich bin froh, dass dank dir allmählich „informationsverarbeitung als grundbedürfnis“ ins gespräch kommt und gleich damit auch die „konzeptualisierung als glücksquelle“. Im augenblick bist du als einziger in der lage, diese konzepte in umlauf zu bringen.

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  4. Vielleicht noch ergänzend: Wir betrachten Konzeptualisierung (bislang) aus zwei verschiedenen Perspektiven: Du betrachtest sie eher unter dem Aspekt der Motivation / Flow / Glück, ich eher unter dem Aspekt „Verständnis“. In der Mathematik wird oft der Fehler gemacht, dass man zuerst die Abstraktion liefert (deduktiv wird „informiert“). Besser, weil verständnisfördernder, ist, die Lernenden selbst die Abstraktion durchführen zu lassen auf Basis mehrerer selbst gemachter (konkreter) Erfahrungen. (Entspricht dem Grundsatz: Erst konkrete Erfahrungen, anschließend wird abstrahiert.) Die Abstraktionen sind dann keine leeren Hüllen, sondern „gefüllt“ mit erfahrungsbasierter Bedeutung. In der Mathematik spricht also schon aus verständnisorientierter Perspektive viel dafür, die Konzeptualisierung bei den Lernenden zu fördern. Der motivationale Aspekt, den du mehr im Blick hast, kommt dann noch dazu…

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  5. Eigentlich verstehe ich unter konzeptualisierung auch die arbeit, die im rahmen von projekten gleistet wird, indem man über konkrete erfahrungen reflektiert und sofort modelle im handlungsfeld selbst generiert (wie ich in Ilmenau permanent mit dir als partner machen wollte!:-). Insofern deckt es sich mit deiner beschreibung. Gerne versuchte ich mit schülern auf frankreichreisen stets erfahrungen zu abstrakten schemata (erkenntnissen) umzuformen. Das beispiel mit Hegel ist also nicht gut gewählt, weil es sich hier um ein bereits existierende abstrakte gebilde handelt (dialektik), das man mit leben füllen muss, indem man es als instrument im alltag zur lebensbewältigung einsetzt: man ärgert sich nicht, wenn jemand eine entgegengesetzte position vertritt, weil man diese sofort dialektisch integrieren kann. Erst bei der benutzung im realen leben entsteht also richtig flow. weil es schön ist, wenn man dank dialektischem verständnis konflkte entschärft.

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  6. @Christian
    Genauer gesagt verläuft konzeptualisierung in einem permanenten dialektischen prozess:
    1. formulierung der these/hypothese (A PRIORI)
    2. antithese (bei der hypothesenprüfung werden fehler offenbar/falsifizierung)
    3. synthese: reformulierung der these unter integration der neuerworbenen erkenntnisse.
    (A POSTERIORI)
    Und dies permanent, von morgens bis abends sowohl in der wissenschaft als auch im alltag. (vgl. Popper usw…)

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  7. Exkurs:

    Ich parke hier einen gedanken, der für die zukunft von bedeutung sein könnte, wenn das thema “ruhm” wieder emergiert (siehe http://cspannagel.wordpress.com/2013/05/28/hilfe-mein-prof-bloggt/):

    dadurch, dass ruhm zu qualitativ und quantitativ hohem impulsaufkommen führt, entsteht ein starker konzeptualisierungsdruck, der natürlich förderlich für die relfexion und die produktion von wissenschaftlichen gedanken ist, sofern der rezipient in der lage ist, den fluss zu beherrschen. Allerdings kann man davon ausgehen, dass im laufe des berühmtheitsanstiegs der berühmtwerdende schrittweise entsprechende techniken entwickelt.

    ruhm -> hohe informationsmenge gepaart mit hoher sozialer kontrolle/aufmerksamkeit -> hoher konzeptionalisierungsdruck -> hoher wissenschaftlicher output.

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  8. Ich habe nun eine Weile über den Beitrag nachgedacht. Mich hat gestört, »Glück« in diesem Sinne zu brauchen. Bildung und Lernen muss, so finde ich, nicht glücklich machen. Andererseits leuchtet mir sehr ein, dass sich Flow dann einstellt, wenn einzelne Verarbeitungsschritte passen.
    Die Forderung, Handlungen auszulösen oder zum Ziel zu haben, leuchtet mir deshalb sehr ein. Und dass dabei Konzeptionalisierung entscheidend ist, ebenfalls.

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  9. @Philippe Wampfler
    Deine zustimmung freut mich sehr! Das bestätigt meinen wunsch, den beitrag vielen zugänglich zu machen. Die definition von „glück“ ist natürlich ein kapitel für sich. Im sinne von Aristoteles wäre es selbstverwirklichung. Und „glück“ nenne ich die langfristig stabilen emotionen (insbesondere flows) die entstehen, wenn menschen sich selbst verwirklichen.

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  10. Spannende Ideen und spannende Diskussion, in der ich jetzt nicht so drin bin, aber Assoziationen bekomme.

    Unsere Themen in der Lehre sind natürlich viel irdischer (aka extrem anwendungsorientiert) als Hegel. Ich sehe aber im beschriebenen Konzept viele Parallelen zum project based learning, sofern es das Ziel hat, das Projekt nicht für sich/die Kommilitonen/die Dozentin, sondern eine zuvor definierte oder besser eine zu erforschende Zielgruppe außerhalb dieses Kreises aufzubereiten und dort dann tatsächlich zu präsentieren. Abgesehen vom Flow während der Arbeit entsteht nach meiner Beobachtung das größte Glücksgefühl, wenn sich der Vermittlungserfolg einstellt und wenn das Konzipierte noch auf andere Weise manifest wird bzw. sichtbar bleibt (z.B. eine Website, ein eBook, ein Workshop mit Außenstehenden).

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  11. @thomas pleil
    Ja, genau: project based learning. Die diskussion gibt es noch nicht, aber ich vesuche sie anzurege. Die basisidee ist, dass informationsverarbeitung und konzeptualisierung grundbedürfnsse sind, deren befriedigung besonders glücklich macht. Das ist, glaube ich, ganz neu!:-))

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  12. […] Posted on 8. August 2016 by jeanpol Wenn man sich mit dem Leben von Forschern befasst, stellt man meist fest, dass sie eine „Hauptentdeckung“ gemacht haben, und nebenbei noch eine ganze Reihe von Nebenentdeckungen, die aber nicht in ihr Fachgebiet fallen. Daher auch nicht von den Spezialisten beachtet werden. Pro domo: Als Fachdidaktiker habe ich 1982 LdL „entdeckt“. Zwar gab es schon viele Ansätze in diese Richtung, aber ich bin an diesem Thema 34 Jahre lang geblieben und gelte als „Begründer“ dieser Methode. Sehr früh, 1983, habe ich mich mit Maslow befasst und erkannt, dass die von Maslow aufgelisteten Grundbedürfnisse eigentlich dem alles umfassenden Bedürfnis nach Kontrolle zuzuordnen sind. Es war eine wichtige Erkenntnis, aber, da ich kein Bedürfnisforscher bin, hat die entsprechende Wissenschaft das natürlich nicht registriert. Immer noch bin ich der einzige, der die Position vertritt, dass die von Maslow aufgelisteten Grundbedürfnisse dem Bedürfnis nach Kontrolle zuzuordnen sind. Die jüngste Nebenentdeckung, auf die ich besonders stolz bin, ist die Erkenntnis, dass ein Megagrundbedürfnis, das weder Maslow noch alle anderen Bedürfnis/Glücksforscher bisher erkannt haben, ist das Grundbedürfnis nach Informationsverarbeitung (und vor allem nach Konzeptualisierung). Das habe ich zum ersten Mal 2011 veröffentlicht, also vor 5 Jahren. Ich bin gespannt, wie lange die Spezialisten brauchen werden, um selbst auf diese Idee zu kommen! Und jetzt zum entsprechenden Blogeintrag: Konzeptualisierung als Glücksquelle! […]

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