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Wozu Philosophiegeschichte?


Aus dem Feuilleton der Süddeutschen Zeitung (Samstag/Sonntag, 7./8. Mai 2011):

Der beste Platoniker – Dem Philosophen Wener Beierwaltes zum 80. Geburtstag. Von Arbogast Schmitt.

(…) Die systematischen Grundprobleme der Philosophie sind keine Neuentdeckungen der Gegenwart; sie werden in ihrer Komplexität überhaupt erst verstehbar, wenn die vielfältigen Aspekte, die zuvor von vielen schon erfasst, bedacht, verworfen oder gebilligt, weiterverfolgt oder aufgegeben worden sind, neu ins Bewusstsein gehoben und bewertet werden.(…)

Wer also die – unbewussten – Grundlagen seines eigenen Denkens aufdecken will, profitiert von einer Durchsicht aller zentralen Themen und Positionen seit dem Beginn philosophischen Reflektierens in hohem Maße. Viele Teilnehmer meiner Kurse wundern sich, wenn sie bei der Lektüre von Platon oder Stuart Mill eigene Gedanken wiederfinden. Die systematische Aufarbeitung der wichtigsten Denkgebilde von der Antike bis zur Gegenwart ist ein Schritt zur Ökonomisierung, denn es erspart dem Einzelnen Irrwege und zeigt ihm, in welcher Denktradition er steht und wo er noch offene Felder selbst weitererforschen kann.


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16 Antworten zu “Wozu Philosophiegeschichte?”

  1. Danke Jean Pol!
    Auch wenn ich die einzelnen Philosophen bisher nicht gelesen habe, so sind die Werke von Peter Senge der Türöffner gewesen, in die Welt des Verstehens der eigenen Person und was bisher geschah. Das Leben ist eine Verkettung von Umständen, die oft erst in der Retrospektive offenbar werden.

    Sonnige Grüße aus Dresden
    Ralf

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  2. „…denn es erspart dem Einzelnen Irrwege…“
    Ja, aber es sind doch gerade die Irrwege, die das Denken und Leben lebens- und liebenswert machen.
    Und zu jedem Irrweg gibt es auch die entsprechende philosophische Tradition.
    So, wie es fast nicht möglich ist einen genuin neuen Gedanken zu finden, der richtig erscheint, so ist es auch nicht möglich etwas so verquer zu denken, dass es nicht auch schon eine Schule gab, die dies vertreten hat.
    Ein Gedanke muss sich bewähren am Widerspruch. Er wird nicht robuster dadurch, dass ich benennen kann, wer ihn wohlmöglich schon einmal formuliert hat: das rettet den Gedanken weder wenn er widerlegt wird, noch adelt es den Gedanken, wenn er für dieses Mal obsiegt.

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  3. Andreas, ja „Irrwege“ sind nötig. Doch wenn sie alleine genommen werden, und man bis ins tiefste Hinterland läuft, um dann festzustellen, dass es nicht weitergeht, dann sehe ich es wie Jean Pol: eine Verschwendung.

    Menschen zu helfen, diesen Weg nicht bis zum bitteren Ende zu gehen, sondern vorher schon zu merken, dass es nicht weitergeht. Dies ist ein Weg, der für alle mehr bringt.

    Es sei denn es handelt sich um einen Consultant, der den „Ertrinkenden“ für teures Geld am Ende der Straße wieder einsammelt und sich über das Geld freut. Gewonnen hat dann jedoch nur einer. Wenn das das Ziel ist, auch gut.

    Doch ist es das einzige Vorgehen?

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  4. Ralf, wenn wir uns aber allenthalben auf von Wegweisern gesäumten Trampelpfaden des schon Geschriebenen bewegen, wie soll dann das tiefste Hinterland je mit seinen verborgenen Schönheiten durchschritten werden?

    Anders herum: bloß weil bekannte Denkerlein dort alle Kehrt gemacht haben, ist doch nicht sichergestellt, dass dahinter nicht eine Oase liegt oder zwei, oder ein Sumpf oder wenigstens einer schöner Holzweg.

    Es ist sicherlich nett, zurückgelegte Strecken nachträglich im philosophischen Atlas nochmal mit dem Finger nachzuzeichnen … aber die Reise ersetzen kann das nicht. Und Reisen ins Unbekannte lassen sich mit einem solchen Atlas naturgemäß auch nicht planen. Und das ist gut so.

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  5. Viele Teilnehmer meiner Kurse wundern sich, wenn sie bei der Lektüre von Platon oder Stuart Mill eigene Gedanken wiederfinden.

    das finde ich bemerkenswert, und deckt sich auch mit meiner erfahrung. und wittgenstein schreibt in seinem vorwort zum tractatus:

    „Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat.“

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  6. Andreas, Gratulation & Respekt, unbekannterweise, großartig gedacht & formuliert!
    Bleib bei Deinen Erkundungen & Entdeckungen abgelegener Gedanken als philosophischer Pfadfinder.
    Eigene Einfälle & Erkenntnisse sind für den Denkenden jedesmal so originär, wie es eigene Bildschöpfungen sind 🙂 Das beglückende oder irritierende „Erste-Mal“.

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  7. @Andreas
    „Ja, aber es sind doch gerade die Irrwege, die das Denken und Leben lebens- und liebenswert machen.“
    – Die Lektüre der besagten Denker espart uns nur ein paar Irrwege, bei weitem nicht alle! Also es gibt genug Anlass für uns, ins Unbekannte zu schreiten und immer wieder nach dem Prinzip des trial and errors uns Blessüren zu holen und doch wieder das Hochgefühl des Neuentdeckens zu erleben.

    „Er (der Gedanke) wird nicht robuster dadurch, dass ich benennen kann, wer ihn wohlmöglich schon einmal formuliert hat“
    – Aber beim Durchschreiten des schon gedachten stoße ich doch immer wieder auf neue Ideen, die mir nicht in den Sinn gekommen wären. Und wenn ich sehe, dass etwas schon mal gedacht wurde (meist auf eine andere Weise als ich es tue) dann stütze ich mich auf diesen Teil und entwickle ihn weiter. „Auf Schultern von Giganten“!

    „Anders herum: bloß weil bekannte Denkerlein dort alle Kehrt gemacht haben, ist doch nicht sichergestellt, dass dahinter nicht eine Oase liegt oder zwei, oder ein Sumpf oder wenigstens einer schöner Holzweg.“
    – Es liegt an mir, ob ich das von einem anderen „Denkerlein“ als Irrweg Beschreibene auch für mich einen Irrweg darstellt. Aber immerhin hat der Denker mich dann gewarnt!

    „Und Reisen ins Unbekannte lassen sich mit einem solchen Atlas naturgemäß auch nicht planen. Und das ist gut so.“
    – Der Führer/Atlas bringt dich rasch dahin, wo es noch was zu erforschen gibt.

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  8. „There is no ‚other world“
    I only know what I have experienced.
    You must be hallucinating“ – Gordon MacKenzie, Orbiting the Giant Hairball

    Andreas, sich auf den Trampelpfaden der anderen zu bewegen wird nichts verändern, weder unser Denken noch Handeln.

    Entscheidend wird sein, dass wir durch „Geschichten der Vergangenheit“ unsere eigene Geschichte damit in der einen oder anderen Art verbinden, und somit „sehend“ für das Neue und Unbekannte werden.

    Klingt einfach ist es. Zu oft habe ich erlebt, dass mir Kollegen, Studenten, und Freunde sagten, dass sie mittelmäßig wären und nichts Besonderes könnten. Ohne einen hilfreichen Anstoß (in Form einer Frage bzw. eines Vergleichs) wären sie oft nicht auf den Gedanken, gekommen, dass sie eine Fähigkeit haben, die außerordentlich ist (für sie war und ist es das Normalste der Welt; für mich z.B. ist das Vernetzen über Netzwerkgrenzen und Disziplinen etwas ganz Normales, was ich seit 30 Jahren mache und fast nicht mehr darüber nachdenke – andere haben ganz andere Stärken und denken genauso wenig nach).

    Da wo die anderen „Denkerlein“ scheinbar kehrt gemacht haben, eröffnen sich Möglichkeitsräume, die wir nutzen können (mit ein wenig Hilfe von Freunden). Wenn es diese „Freunde“ (seien es Kollegen, Workshopleiter, Zufallsbekanntschaften, Chefs, Freunde, …. ausbleiben „fahren“ wir oft ungebremst an die Wand (und das sogar bei beschleunigender Geschwindigkeit, da wir annehmen, dass alles so schön weitergeht wie bisher).

    Jean Pol, danke für das Bild mit dem Atlas – wenn wir ungefähr eine Ahnung haben wie der Weg vor uns aussehen könnte, fällt es wesentlich leichter ohne die ganz großen Verluste in die Zukunft zu gehen.

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  9. @Ralf
    Ich danke dir!
    „Entscheidend wird sein, dass wir durch „Geschichten der Vergangenheit“ unsere eigene Geschichte damit in der einen oder anderen Art verbinden, und somit „sehend“ für das Neue und Unbekannte werden.“
    – Ja, das sehe ich auch so! Und mittelmäßig fühlte ich mich bis ich meine umgebung wechselte und plötzlich andere menschen, die mich vorher nicht kannten, mich mit unbelastetem blick ansahen.

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  10. @JeanPol, guten Morgen. Als ich mich gestern mit Nicole Heaston, einer US-amerikanischen Sopranistin, die die Hauptrolle in „Die Krönung der Poppea“ hier an der Semperoper singt, traf ging es mir genau so wie Du beschreibst.

    Der Erstkontakt war beschränkt auf Facebook und meine Gedanken zu zwei Vorstellungen von Poppea. Dann eröffnete sich ein neuer Möglichkeitsraum als wir uns gestern auf einen Kaffee trafen.

    Wir beide haben Dinge mitgenommen, die uns so nicht bekannt waren. Z.B. habe ich die Hintergründe der Diskussion um Barack Obamas Geburtsurkunde erfahren (Donald Trump tries to go for President ;-)). Und was bisher lediglich im „Web Space“ geschah wurde real – das Gespräch wurde „real authentisch“. Hinterfragen persönlicher Annahmen wurden möglich.

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  11. @Ralf
    Ich wollte vor allem betonen, dass der wechsel von einer umgebung, in der man ein „negatives“ image mitschleppt (oder mitzuschleppen meint), zu einer umgebung, in der man als unbeschriebenes blatt eine neue chance bekommt, für die glückliche gestaltung des lebens entscheidend sein kann!

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  12. Das Studium der Philosophiegeschichte birgt die Gefahr, ahistorischen und situationsunabhängigen philosophischen Probleme – wiederkehrende philosophische Themen – für wirklich zu halten. Für John Dewey (z.B.) sind diese Themen eher Ausdruck der Wiederkehr von ähnlichen Situationen. Denn er sieht die Aufgabe der Philosophie
    darin. immer wieder, eine vernünftige und umfassende Antwort auf die Widersprüche
    und Spannungen der individuellen und gemeinsamen Lebensführung unter der Berücksichtigung der besonderen historischen Bedingungen zu geben. Philosophisches Denken ist der Ausdruck des Bedürfnisses nach Veränderung der gemeinsamen Denk – und Handlungsweisen. Philosophiegeschichte ist ergo Geschichte.

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  13. @Franz
    Egal was wiederkehrt, ob Themen oder Situationen. Es ist extrem nützlich, wenn ich in beiden Fällen über Denkmuster verfüge, die mir das Verständnis erleichtern. Die Geschichte der Philosophie hält mir einen Schrank bereit, aus dem ich die Denkmuster nach Bedarf herausholen kann.

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