Jean-Pol Martins Blog

Gemeinsam Wissen konstruieren

Über mich

Impressum

Lange Inkubationszeit, plötzliche Emergenz


Resume Emergenzen tauchen plötzlich auf als momentanes Zusammentreffen unsichtbarer Synergien. Eine Schülerin geht nach vorne, um den Unterricht zu leiten und auf einmal stellt man fest: die Inkubationszeit hat sich gelohnt.

1. Intransparenz von Systemen

An anderer Stelle habe ich bereits beschrieben, dass Systeme von außen betrachtet intransparent sind.  Dies gilt beispielsweise für Menschen, die man anspricht, ohne beobachten zu können, was sich in ihren Köpfen abspielt. Für Lehrer und Dozenten besteht die Gefahr, dass sie, vor einer Gruppe stehend, das Nichtreagieren der Schüler oder Studenten als Zeichen des Desinteresses – oder gar der Dummheit – fehlinterpretieren. Unter dem dadurch ausgelösten „Leidensdruck“ werden oft Fragen an die Gruppe gestellt, die eine rasche Antwort ermöglichen. So bleibt der Diskurs oberflächlich und beide Teile, Lehrer und Schüler, gewinnen den Eindruck, dass angesichts der intellektuellen Schlichtheit der Gegenseite, jede Anstrengung verlorenen Energie darstellt. Um dem entgegenzuwirken, lasse ich meine Schüler zu Jahresbeginn sehr anspruchsvolle Texte zu Hause bearbeiten. Meist ist der Kontrast zwischen den oft dürftigen Schüleräußerungen im Unterricht und den abgelieferten, intelligenten  Schülertexten gewaltig. Ich weiß also: die jungen Leute vor dir sind klug. Deine Aufgabe ist es, diese Klugheit auch im Unterrichtsdiskurs emergieren zu lassen.

2. Wie Rica emergierte

Als Spannagel, seine Studenten und Lutz Berger zu mir in den Unterricht kamen, waren Rica und Elfi dran. Beide kluge aber sehr zurückhaltende  Mädchen. Sie wollten zunächst nicht nach vorne kommen, aber nach einigem Zureden stand am Ende doch Rica vor der Klasse und führte das Thema „Aufklärung“ ein. Es war ein Vergnügen zu sehen, wie nach zögerlichen Anfängen sie mehr und mehr initiativ wurde, ihre Mitschüler zum Nachdenken anregte, immer komplexere Gedanken entfaltete und von den anderen forderte. Das ganze Wissen, die ganzen Techniken, die sie seit dem Anfang des Jahres erworben hatte und im normalen Unterrichtsalltag nur in Ansätzen sichtbar sind, verdichteten sich in diesen Minuten des Leistungsdruckes und emergierten vor unseren Augen. Hätte ich nicht darauf beharrt, dass sie ihre Präsentation durchführt, hätte ich vielleicht nie erfahren, wovon Rica fähig ist, wenn sie in eine entsprechende Situation gerät und vor Publikum alle Einzelkompetenzen mobilisieren muss, die sie im Laufe der Zeit einzeln aufgebaut hat.

3. Twitter, Spannagels Studenten

Auch  Twitter ist ein weitgehend intransparentes System. Natürlich hat man seine Adressaten im Kopf, aber man ahnt, dass es Leute gibt, die einen followen, ohne das man das selbst jemals erfährt. Daher twittere ich einerseits gezielt mit Blick auf „meine“ community, aber ich monologisiere auch aufs Geratewohl, einfach auf Verdacht. Und nach einer gewissen Inkubationszeit emergiert plötzlich ein Twitter-Benutzer und stellt eine tiefgehende Frage. Die Geduld macht sich bezahlt. Dies gilt für jedes System. Auch Spannagels Studenten agieren nicht immer transparent für mich:-)). Aber sie überraschen mich immer wieder mit Emergenzen (Juwelen), die zeigen, dass es sich lohnt „dranzubleiben“.

Fazit: Je länger man in einem Feld bleibt und dieses nachhaltig strukturiert, desto größer die Chance, dass man durch Emergenzen (Juwele) überrascht wird. Aktivität, Konsequenz, Geduld und viel Vertrauen sind die zu empfehlenden Strategien.

Das Video dazu:

 

Und mein Abschlussvortrag in Ludwigsburg mit diesem Thema:


, ,

13 Antworten zu “Lange Inkubationszeit, plötzliche Emergenz”

  1. Wirklich sehr interessant, dass du den Hintegrund zu Rica und Elfi beschreibst – jetzt kann ich die Situation noch besser verstehen. Dieser Beitrag muss unbedingt vom zukünftigen Video aus verlinkt werden – damit die Zuschauer die Leistung einschätzen können!

    Like

  2. @cspannagel
    Ja, dieses Phänomen kann man immer wieder beobachten: unter Druck mobilisieren wir schrittweise alle unsere Fähigkeiten, die dann alle auf einmal „emergieren“. Und das passiert bevorzugt, wenn wir vor einem Publikum stehen.

    Like

  3. Hi! Sorry, dass ich hier etwas Offtopic schreibe. Ich habe mich gerade mal mit deinem (ich bleib mal beim Twitter du) Prinzip Lernen durch Lehren auseinandergesetzt.

    Ich stimme auf jeden Fall zu, dass man echt toll lernen kann, wenn man versucht anderen etwas beizubringen. Das habe ich auch schon oft selber gemerkt, als ich anderen etwas erklärt habe.

    Aus meiner eigenen Schulzeit kann ich mich noch an ein ähnliches (oder sogar das gleiche) System erinnern und musste immer wieder feststellen, dass nur die Leistungsträger innerhalb einer Gruppe für den Großteil der Arbeit verantwortlich waren. Schüler, die sich sowieso gerne mal nicht beteiligen, blieben in den Gruppen auch stumm und es wurden immer die gleichen Sprecher ausgewählt.

    Unter diesen Umständen fand ich das Unterrichtsmodell sogar kontraproduktiv im Vergleich zum alten Modell.

    In einer Gruppe voller lernwilligen (eher an der Uni) wäre sowas perfekt. Aber aus meinen Psychologie-Vorlesungen weiß ich auch, dass Gruppenarbeit nicht unbedingt mehr Leistungs-Output hervorbringt.

    Wie geht man mit diesen „faulen“ Schülern um? Ist das Lernen durch Lehren Prinzip unter solchen suboptimalen Bedingungen überhaupt noch sinnvoll?

    Besten Gruß

    Markus aka @germanstudent bei Twitter

    Like

  4. @Markus
    Bei LdL gibt es kaum Gruppenarbeit. Die Lehreinheiten werden von Zweierteams erstellt und durchgeführt. Es sind also immer nur zwei Schüler, die vorbereiten und im Anschluss vor die Klasse treten.

    Like

  5. Und, wie Jean-Pol im Artikel andeutet, die Aufforderung, sich vorne hinzustellen und etwas für die anderen zu leisten, braucht nicht von der Gruppe zu kommen, sondern geht sehr wohl vom Lehrer aus.
    Er liefert extrinsische Motivation und Ermutigung, die bei der Gruppenarbeit oft fehlen. (Jean-Pol, bitte korrigier mich!)

    Like

  6. lernwillige schüler == unterrichtswillige schüler? irgendwie möchte ich gerade sagen: „faule schüler lernen mehr!“ … ist eine meiner speziellen beobachtungen aus meiner schulzeit: alle klassenbesten waren extrem faule typen, die für sich optimale prozesse entwickelt hatten, mit geringsmöglichem aufwand maximal gute noten zu erreichen: wer erstmal auf der stufe des anerkannten klassenbesten ist, braucht kaum mehr was tun *gg* der ruf erledigt bereits alles – auch bei den sogenannten ‚objektiven‘ prüfungen *gg*

    Like

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..