Jean-Pol Martins Blog

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Konzeptualisieren? Aber nicht schon beim Frühstück!


Resume Angesichts der Beschleunigung aller Lebensvorgänge, insbesondere auch des Outputs an Informationen müssen wir uns daran gewöhnen, Alltagserfahrungen rasch zu kognitiven Schemata zu verarbeiten.

1. Alltagserfahrungen schnell zu abstrakten Schemata umformen

Ich neige dazu, meine Handlungen, auch die scheinbar trivialsten, theoriegeleitet und theoriegenerierend zu gestalten. So ist mein Gang zur Kaffeemaschine in der Früh gleichzeitig eine Prüfung meiner Theorie, dass Kaffee fit macht. Diese Theorie wird meist bestätigt. Alle anderen Aktivitäten gehe ich auf diese Weise an. Nicht selten versuche ich, die entsprechenden Mechanismen und Überlegungen meiner Frau mitzuteilen, sobald ich sie erblicke, auch beim Frühstück.  Meine Frau, meine Kinder und generell meine Umwelt finden mich sehr anstrengend. Bei der Durchführung von Projekten wird dieser Prozess noch intensiviert. Durch die Verbreitung der neuen Kommunikationsmittel wurde der Ablauf sehr beschleunigt, weil das Aufkommen an Handlungen und Informationen vielfach gestiegen ist. Ich führe sehr viele Projekte durch und konzeptualisiere permanent. Und das Konzeptualisieren ist eine Notwendigkeit, weil es die Voraussetzung bildet für den nächsten Schritt.

2. Konzeptualisieren  in der Wissenschaft, im alten und im neuen Paradigma

Im alten Paradigma neigte man dazu, a posteriori zu konzeptualisieren. Das bereits Gedachte wurde ausführlich rezipiert, ausdifferenziert, gegeneinander abgegrenzt. Rousseau, Pestalozzi, Dewey, Montessori, die im Prinzip ähnliches sagen, wurden bis in die kleinsten Details untersucht und interpretiert. Das war vertretbar in einer Welt, in der wenig Neues passierte, so dass man sich erlauben konnte, viel Zeit mit Lapalien zu verbringen. Heute aber, wo jeder Schritt neue Horizonte eröffnet,  ist eine ganz andere Wissenschaft angesagt: man soll sehr schnell zusammenfassen, was frühere Denker für eine Zeit gedacht haben, die die ihrige war (wir wollen ja das Rad nicht ständig neu erfinden) und dann auf der Basis dieser Grunderkenntnisse, explorativ die neue Welt angehen. Mir persönlich genügen mein Menschenbild und ein paar zusätzliche Metaphern. Und dann dringe ich beherzt in das Forschungsfeld ein, das eine Fülle von neuen Problemen anbietet, was zu einer permanenten Generierung von Hypothesen und Lösungen führt, also zur kontinuierlichen Konzeptualisierung. Und so schafft man permanent neues Wissen zur Beherrschung einer neuen Welt (Kontrollbedürfnis).

Fazit Handeln, reflektieren, konzeptualisieren. Nicht nacheinander, sondern parallel.


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23 Antworten zu “Konzeptualisieren? Aber nicht schon beim Frühstück!”

  1. Wir sind aber nicht nur Kopfmenschen, sondern baruchen auch „Futter“ fuer Herz und Bauch. Wenn man den Kaffee morgens nicht mehr meditativ, d.h. kopfleer und sinnesfroh geniessen kann, kommen wichtige menschliche Grundbeduerfnisse zu kurz. Staendiges, einseitiges rationalisierendes Denken macht ueber kurz oder lang krank – physisch und psychisch. Das ist meine feste Ueberzeugung.

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  2. @Claudia
    „Staendiges, einseitiges rationalisierendes Denken macht ueber kurz oder lang krank – physisch und psychisch. Das ist meine feste Ueberzeugung.“
    – Dann werde ich mir gleich einen Termin beim Arzt geben lassen, Claudia!:-)) Du sagtest doch in Ilmenau, dass es dich nicht stört, wenn ich beim Frühstück theoretisiere!:-)))

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  3. überzeugender vielleicht das argument, dass einseitige kopflastigkeit nur eine seite deiner zuhörer anspricht. dh. wenn du ausschließlich theoretisierst und konzeptualisierst, bist du weniger effektiv, als wenn du auf „allen kanälen“ sendest und agierst … 😉 zb wenn studenten nicht hinhören. dann ist es gelegentlich angebracht, sich mal beispielsweise auf den boden zu legen …. oder ich setze mich auf einen bürostuhl und segel von einem ende des raums zum anderen… körperlich.

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  4. Wie rasch wird falsches Konzeptualisieren korrigiert?
    1989 kam die idiotische These auf, deshalb weil der Kommunismus ein Irrweg war, könne der Kapitalismus nie einer werden. Es hat ziemlich lange gedauert, bis diese Konzept von der Wirklichkeit deutlich genug widerlegt wurde, dass mehr als nur eine Handvoll merkten, dass das Konzept falsch war.
    Woran also erkennst du, dass du falsch konzeptualisiert hast?

    Reicht dir ein einziges Gegenbeispiel?

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  5. @birkenkrahe
    Ich denke nicht, dass ich einseitig konzeptualisiere, sondern nur schneller als früher. Es wird mehr und intensiver gelebt, und daher auch rascher und umfangreicher Schemata generiert.
    @apanat
    Da mehr gelebt wird, werden falsche Konzepte sofort als falsch erkannt, weil sie im Handlungsvollzug nicht funktionieren. Bezogen auf meine persönlichen Erfahrungen in den letzten Monaten sehe ich, dass die Neuron-Metapher, die relativ schnell als Modell auf dem Hintergrund meiner konkreten Erfahrungen im Netz aufgestellt wurde, sich im realen Vollzug bewährt hat. Wäre es nicht der Fall gewesen, hätte ich diese Metapher schnell abgelegt und eine neue generiert. Es geht also wirklich nur um die Akzeleration der Vorgänge. Es wird schneller konzeptualisiert und schneller geprüft, ob das Konzept tragfähig ist.

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  6. Als Anregung werfe ich in die Diskussion mit ein:

    Das ständige abfeuern abstrakter Theoriegebäude ist anspruchsvoller als das ständige abfeuern eigener ganz spezieller Erfahrungen. Leider bin ich auch jemand, der seine Gedanken in gewohnten Umgebungen nur selten zurück halten kann. Meine Mitmenschen überfordere ich damit! Warum? Weil zwar der Körper des Gegenüber wach ist, dessen Geist aber noch nicht. D.h. der Geist kämpft sich erst in den Tag hinein und das allein ist schon eine sehr anstrengende Leistung. Wenn ich in diesem Moment meine Theorie anbringe, dann reagiere ich enttäuscht über das magere Ergebnis. Dabei konnte sich der Gegenüber gar nicht großartig anders verhalten. Wir Menschen haben „leider“ unterschiedliche biologische Veranlagungen, die wohl in Gesprächen zu berücksichtigen sind. Ich glaube auch das durch Gewöhnung an die Situation, das Verhalten geändert werden kann.

    Zudem kann ich mich schon etwas wartend zurücknehmen, auch wenn ich dann „wie auf heißen Kohlen“ sitze, weil ich gelernt habe, dass nicht jederzeit jeder aufnahmefähig ist. Meine Gedanken, bzw. die Zeit der Äußerung, möchte ich jedoch nicht verschenken. Wenn ich spüre der Gegenüber ist nicht aufnahmefähig, dann denke ich „Schade um den komplex hergestellten Gedankengang und hoffe auf eine nächste Chance ihn weiterzugeben.

    LG

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  7. @Jana
    Völlig OK. Allerdings erwarte ich von Wissenschaftlern oder solchen die sich mit diesem Attribut schmücken schon die Bereitschaft, auch beim Frühstück zu theoretisieren. Zu diesem Job wird niemand gezwungen. Aber alles natürlich cum grano salis!:-)))

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  8. @jana stimme dir zu – das problem kenne ich!

    @jeanpol ist mir zu religiös – aber genau so ist die wissenschaft – und du wolltest ja auch mal eine religion gründen 😉 der hauptgrund aber, warum ich missverstanden wurde von dir liegt darin, dass ich gar kein wissenschaftler (mehr) bin! sondern teacher und coach, was eigentlich dasselbe bedeutet bei mir, also coach/begleiter. ich werde also beim frühstück machen, was ich bisher immer mache: für mich sein, schreiben und mich am schönen wetter freuen!

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  9. @birkenkrahe
    „Zu religiös“? Sehr lustig! Hat Religion nicht immer was mit Transzendenz zu tun? (ich sehe mich als reinen systemtheoretiker):-)))

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  10. Für mich sind es nicht die Konzepte, die wichtig sind. Es sind die Ergebnisse und Wirkungen, die sie mit sich bringen, das heißt allein das Konkrete zählt für mich.
    Zu dem Konkreten gehört für mich immer auch der Bezug zu Systemen, die in bestimmten Kontexten den Rahmen setzen, in anderen nicht. Ein Konzept muss in diesen „anderen Kontexten“ frei von determinierenden Systemvariablen wirken können, sonst ist es *für mich* wertlos und nicht ertragreich. Was nachhaltig ertraglos ist (ideell oder substituiert sekundär-ideell-finanziell), stimmt von der Energiebilanz her nicht und führt mittelfristig zu Burnout.
    Leute, die reden, gibt es schon genug – auch Bildungsforscher. „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. “
    Warum reagieren Lehrende so empfindlich auf Versuche, dass Lehrinhalte festgeschrieben werden sollen? (das geschieht in der Oberstufe meines Bundeslandes sehr konkret). Es ist ein Einbrechen von Fremdkonzepten in einen Bereich, der bisher Freiraum für individuelle Konzeptualisierungen war, ein weiteres Einbrechen des diffusen, feindlichen Systems.
    Die Forderung, im Unterricht die Grundbedürfnisse des Menschen zu befriedigen, tut das genau nicht, sondern adaptiert geschickt eine Forderung, die im System latent immer noch gewünscht und vorhanden, jedoch als Ursprungskonsens des Bildungssystems weitgehend vergessen worden ist.
    Das Konzept ist also prinzipiell vorhanden. In dieser Phase geht es vielleicht auch darum, es ständig neu zu reflektieren. Wichtiger erscheint mir, es konkret praktisch zu erproben – gehen wir in die Empirik und nutzen dabei die Latenz geschickt.

    Und wenn es zu Phasen der intendierten Leere im Kopf kommt, buchen wir es bitte unter Menschlichkeit ab :o)… Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.

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  11. @mccab99
    „Für mich sind es nicht die Konzepte, die wichtig sind. Es sind die Ergebnisse und Wirkungen, die sie mit sich bringen, das heißt allein das Konkrete zählt für mich.“
    – Konzepte entstehen – sofern man parallel reflektiert – im Kontext der Handlung selbst. Sie sind das unmittelbare Ergebnis der Reflexion und dienen der Weiterstrukturierung von neuen Hanldungen. Beides ist wichtig, weil nicht zu trennen: handeln und gleichzeitig konzeptualisieren, damit die nächste Handlungen auf einer konzeptuellen Grundlage angegangen werden können, die zum Substrat zur weiteren Produktion von lebensrelevanten Muster dienen, usw.

    „Das Konzept ist also prinzipiell vorhanden. In dieser Phase geht es vielleicht auch darum, es ständig neu zu reflektieren. Wichtiger erscheint mir, es konkret praktisch zu erproben – gehen wir in die Empirik…“
    – Sage ich (und tue ich auch) die ganze Zeit!.-)))

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  12. Im alten Paradigma neigte man dazu, a posteriori zu konzeptualisieren. Das bereits Gedachte wurde ausführlich rezipiert, ausdifferenziert, gegeneinander abgegrenzt. Rousseau, Pestalozzi, Dewey, Montessori, die im Prinzip ähnliches sagen, wurden bis in die kleinsten Details untersucht und interpretiert.

    Da es bereits gedacht und rezipiert etc. ist, wäre dann heute Job, sich die wesentlichen Denker einmal anzueignen, um eine Basis zu haben, von der aus man auch feuern kann.

    Mein Gedanke: Das hier vorgestellte Konzept hängt von Vorwissen ab, auf das ständig zurück gegriffen und das ständig veränderbar zugleich ist – und das sich ständig der Praxistauglichkeit aussetzen muss.

    Du sprichst ja auch direkt die Wissenschaft an, einen Teil unseres gesellschaftlichen Systems, der eigentlich an der Reflexion und Gestaltung des Systems zentral beteiligt war. An seine Stelle scheinen Institutionen getreten, die wesentlich schneller agieren, inbesondere im ökonomischen Sektor. – Wenn ich also Weltverbesserung als Ziel habe, muss es tatsächlich oft schnell gehen. (Ich erinnere gerade das Beispiel Netzpolitk.org vs. Bahn in Sachen Datenschutz-Skandal und investigatives Handeln. Über das Instrument Twitter feuerten die Neuronen so schnell und so intensiv, dass die Konzeption der Abmahnung in diesem Fall schnell in sich zusammenbrach. Meinst du solche Prozesse, wenn du so sehr das dauernde und schnelle Konzeptionalisieren vertrittst?)

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  13. @Herr Larbig
    „Wenn ich also Weltverbesserung als Ziel habe, muss es tatsächlich oft schnell gehen.“
    – Ja, genau: ich muss viel handeln (empirischer Stoff als Basis zur Konzeptualisierung) und schnell im Handlungsvollzug neue Schemata entwickeln, die gleich in neuen Handlungskontexten erprobt werden.

    „Meinst du solche Prozesse, wenn du so sehr das dauernde und schnelle Konzeptionalisieren vertrittst?“
    – Ja, im Prinzip schon. Die Welt verändert sich sehr rasch und verlangt neue Denkinstrumente und Verhaltensweisen. Denkinstrumente und Verhaltensweise müssen permanent empirisch geprüft und angepasst werden. Auf dem Educamp meinte eine Teilnehmerin (Claudia), dass es unhöflich sei, wenn man twittert während jemand einen Vortrag hält. Im alten Paradigma war es unhöflich, heute hat Höflichkeit andere Ausdrucksformen. All das muss reflektiert und modelliert werden.

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  14. Die Neuronenmetapher hat den Vorzug, dass sie Schnelligkeit an Stelle von Qualität setzt. Schnelligkeit statt Qualität ist aber das Hauptcharakteristikum des Internet und von Twitter speziell. Die Neuronenmetapher beschreibt als Norm, was sich technisch entwickelt hat.
    Freilich, die Metapher ist, wenn ich richtig sehe, älter als Web 2.0. Da muss es dir natürlich gefallen, dass eine technische Entwicklung zu deiner Metapher passt. Das heißt aber nicht, dass das mit der Metapher beschriebene Konzept tragfähig ist. (Freilich auch nicht, dass es nicht tragfähig ist.)

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  15. @apanat
    „Schnelligkeit statt Qualität“
    – Ich sehe hier nicht unbedingt einen Gegensatz. Im Rahmen des Internets haben wir uns gewöhnt, schneller Informationsn zu verarbeiten. Ich denke, wir bringen dieselbe Qualität wie früher, nur eben schneller.

    „Schnelligkeit statt Qualität ist aber das Hauptcharakteristikum des Internet und von Twitter speziell.“
    – Ich denke, dass oft Quantität in Qualität umschlägt. Die hohe Anzahl von Interaktionen und von Menschen, die daran beteiligt sind, führt zu einem Qualitätsanstieg.

    „Freilich, die Metapher ist, wenn ich richtig sehe, älter als Web 2.0.“
    – Sofern ich diese Metapher gepägt habe, war es nachdem ich etwa 1996 festgestellt hatte, dass das Internet eine hohe Interaktionsgeschwindigkeit und die Vernetzung ermöglicht. Dann war es naheliegend, das Gehirn als Gedankenproduzent modellhaft heranzuziehen und auf die Menschen im Netz zu übertragen.

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  16. […] 4. Mai 2009 · Keine Kommentare Irgendwann im Januar 2009 Jean Pol Martin entdeckt. Ich glaube, der erste Blog-Artikel, den ich von ihm gelesen habe, war: “Konsumiere Menschen nicht! Auch nicht in Twitter!” Diese Haltung hat mich sofort überzeugt. Ich selbst unternahm gerade meine ersten Gehversuche auf Twitter und fühlte mich manchmal nackig, manchmal aufdringlich, oft überflüssig und fragte mich immer wieder nach dem Maß und nach dem Sinn… Fragen nach Authentizität im Netz bewegten mich (hierzu war ich auch mit anderen, z.B. Mirko Lange von Talkabout) im Gespräch. Jean Pol’s Tweets führten mich zu seinem Blog – und sein Blog war so ziemlich genau das, was mir selbst immer vorschwebte: ein Knotenpunkt alle persönlichen Projekte, ein echtes Internettagebuch über sämtliche Ideen und sich weiter entwickelnden Gedanken (er würde sagen: “Konzeptualisierungen“). […]

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