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Mai 1968: von top-down zu bottom-up!


Fleißig studieren, und dann das! – Daniel Cohn-Bendit

Ab Januar 1968 besuchte ich sehr pflichtbewusst die vorgeschriebenen Kurse. Es war meine letzte Chance und ich wollte mir nichts zuschulden kommen lassen. Auf dem Programm standen u.a. FichtesReden an die Deutsche Nation, Faust, Nietzsche. Nation und Elite, das passte ganz gut in meine Gedankenwelt. Wir behandelten auch Brecht und die Expressionistischen Dichter, auch das war in Ordnung. Ich wollte gute Noten bekommen und meine Prüfungen bestehen. Und gute Noten bekam ich auch. Schrittweise baute ich mein Selbstbewusstsein wieder auf, das in den vorangehenden Jahren so sehr gelitten hatte. Eines Tages, es war Mitte März, stieg ich in der Früh aus dem Bus, der uns von Paris nach Nanterre brachte, als ich zu meinem Entsetzen festellte, dass die schön weiß gestrichenen Wände der Eingangshalle mit schwarzen Grafitis versprüht waren. Es waren teilweise anarchistische Sprüche, teilweise ging es um den Vietnamkrieg, den die Amerikaner in Asien durchführten und den man stoppen sollte. Wir waren damals an Grafitis in öffentlichen Gebäuden, zumal einer Universität, gar nicht gewöhnt! Eine Gruppe von Studenten, mit einem kleinen Rothaarigen an der Spitze, verteilte Flugblätter. Sofort sprach ich sie an und fragte, warum sie soviel Unruhe verursachten. Es würde mich stören. Ich wolle studieren, meine Prüfungen bestehen und der Vietnamkrieg sei mir schnurzegal. Einige Studenten kamen dazu und bestätigten meine Position. Wenn die Störer nicht mit der Uni zufrieden seien, sollten sie woanders gehen, aber die Fleißigen nicht am Studieren hindern. Am Tag darauf kam die Presse (Le Monde, France-Soir) und das Fernsehen. Cohn-Bendit, so hieß der kleine Rothaarige, wurde interviewt, und ich wurde als Gegenpart ebenfalls gefragt und gefilmt. Im Anschluss erschienen umfangreiche Artikel über den Vorfall, naturgemäß war Cohn-Bendit stark aufgebaut, aber ich wurde auch zitiert. Mich wunderte allerdings, dass ich als Vertreter der Fleißigen, die ihre Prüfung anstrebten und von Politik nichts wissen wollten, immer allein gegenüber Cohn-Bendit und seinen Freunden stand. Das hatte den enormen Vorteil, dass ich auch bei Interviews einbezogen wurde, wenn man nach einem Gegenspieler suchte. So kamen meine Bilder im Umlauf, und ich wurde – wenn auch nur kurzfristig – beachtet. Allerdings war meine Argumentationslinie sehr schlicht und redundant. Ich behauptete, dass Cohn-Bendit (Dany) und seine Gruppe gar nicht repräsentativ seien und ich 10.000 Studenten hinter mir hätte. Nur die 10.000 sah man nie. Dany und seine Freunde dagegen lieferten politische Analysen, wälzten ganz neue Ideen, waren spannend, eigentlich revolutionär. Peu à peu wurde mir klar, dass die 10.000 Studenten, die bisher jeden Tag nach Nanterre gekommen waren und auf einmal, nur wegen einer winzigen Gruppe von Störern, zu Hause blieben, durch irgendwas gelähmt waren. Wieso verteidigten sie nicht den Ort, an dem sie jeden Tag ihrer Arbeit nachgingen? Womöglich war ihnen diese Arbeit tatsächlich egal. Eine ganze Jugend völlig apathisch. Ich wurde immer offener für Cohn-Bendits Argumente und nach ein paar Tagen war ich Maoist. Wir mussten gegen eine Gesellschaft ankämpfen, die ihre Jugend so verdummte. Schuld war natürlich der Kapitalismus, aber auch der Kommunismus sowjetischer Prägung. Basisdemokratie, das war die Rettung.


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2 Antworten zu “Mai 1968: von top-down zu bottom-up!”

  1. Diese Entwicklung „vom Saulus zum Paulus“ ist immer wieder interessant, gerade wenn man – wie du – daran glaubt, dass beide Positionen unzureichend fundiert waren/sind.

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