Jean-Pol Martin: Lernen durch Lehren: Konzeptualisierung als Glücksquelle. In: Olaf-Axel Burow, Stefan Bornemann (Hrsg.): Das große Handbuch Unterricht & Erziehung in der Schule. Carl Link Verlag, 2018. S. 345–360. ISBN 978-3-556-07336-0.
Vortrag
Politische Strukturen orientieren sich an den Menschenbildern, die in einer Gesellschaft vorherrschen. Diese sind noch stark von Religion und Philosophie geprägt. Seit einigen Jahrzehnten haben die Gehirnforschung und die positive Psychologie neue Erkenntnisse über die Funktionsweise des Menschen gewonnen. Auf dieser Grundlage ist es möglich, ein neues, weltweit konsensfähiges Modell vorzuschlagen, auf das sich alle gesellschaftlichen Akteure beziehen können. Dies führt dazu, dass die tradierten Menschenrechte neu bestimmt und als Grundbedürfnisse reformuliert werden. Damit wird das Recht auf Partizipation als Grundbedürfnis erkannt und die Bürgerbeteiligung bekommt eine ganz neue Dimension.
Zu Beginn der 80er Jahre war ich Französischlehrer in Eichstätt und ich kam auf die Idee, Lehraufgaben an meine Schüler zu delegieren. Damit sollte in erster Linie ihr Sprechanteil erhöht werden. Ferner würde das Verfahren die Motivation der Lernenden fördern, denn sie würden stärker beteiligt sein. Diese Ziele wurden erreicht. Insbesondere die Motivation der Lernenden wurde stark erhöht. Auf der Suche nach einer theoretischen Begründung dieses Motivationsanstieges, widmete ich mich der Bedürfnisforschung, stieß aber zugleich auf die damals noch peripher einbezogenen Neurowissenschaften.
2. Die Grundbedürfnisse
(Nach Maslow)
- Physiologische Bedürfnisse: Schlafen, Essen, Bewegung, Sexualität
- Bedürfnis nach Sicherheit: Physische Sicherheit (keine körperliche Bedrohung), Psychische Sicherheit (keine Demütigung, Arbeitsplatz, Wohnung)
- Bedürfnis nach sozialer Einbindung: In einer Gruppe sein
- Bedürfnis nach Anerkennung: Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein
- Bedürfnis nach Selbstverwirklichung: Seine Potenziale realisieren
- Bedürfnis nach Sinn: Warum lebe ich?
3. Informationsverarbeitung und Kontrolle als übergeordnetes Bedürfnis
Alle Grundbedürfnisse entsprechen Kontrolldimensionen im Sinne der Lebenserhaltung (Kontrolle über das eigene Leben):
- Physiologische Bedürfnisse (Erhaltung des Organismus – Kontrolle über den Körper damit er lebenstüchtig bleibt),
- Sicherheit (ist gleichzusetzen mit Kontrolle über Umfeld und unmittelbaren Lebensraum),
- Soziale Einbindung (Freunde helfen mir, das Umfeld „im Griff zu behalten“),
- Soziale Anerkennung (signalisiert mir, dass ich lebenstüchtig bin),
- Selbstverwirklichung (ich dehne mein Kontrollfeld aus, z.B. indem ich ein Instrument spiele und mir neues Wissen aneigne),
- Sinn (ich gewinne Kontrolle über mein Leben und empfinde es als kohärent)
Die Verarbeitung von Information ist Voraussetzung für eine kontinuierliche Anpassung des Organismus an den Zustand der Umwelt. Passt sich der Organismus nicht an den Zustand der Umwelt an, ist er nicht mehr lebensfähig. Die Informationsverarbeitung erlaubt also Kontrolle. Und sie wird auf der mentalen Ebene als „Flow“ empfunden.
4. Exploratives Verhalten und Flow
Um „mehr von der Welt“ zu haben, also mehr Felder zu „kontrollieren“, ist es günstig, wenn man sich explorativ verhält, also neue, unbekannte Bereiche betritt. Dadurch wird die „kognitive Landkarte“ ausgeweitet, das Selbstbewusstsein wird gestärkt und fördert wiederum das explorative Verhalten. Ein sich selbst verstärkender Prozess. Damit wir motiviert sind, uns explorativ zu verhalten, werden wir durch „Flow“ belohnt. Ein tolles Gefühl des Fließens.
5. Instrumente zur kognitiven Kontrolle liefern
- Systeme im Spannungsfeld von Antinomien (homöostase)
Kontrolle/Unbestimmtheit
Ordnung/Chaos
Klarheit/Unschärfe
Einfachheit/Komplexität
Integration/Differenzierung
Gesellschaft/Individuum
Zwang/Freiheit
Konkretion/Abstraktion
Linearität/Nicht-Linearität
Zentralisierung/Dezentralisierung
Der Mensch sehnt sich bewusst nach Ordnung, Klarheit, Einfachheit… Aber sehr schnell werden ihm solche Strukturen langweilig. Der Bauplan der Natur sieht vor, dass Lebewesen permanent trainieren, Unbestimmtheit, Chaos, Komplexität und Unklarheit zu reduzieren. Menschen sind so konstruiert, dass sie Chaos, Unbestimmtheit und Komplexität aufsuchen, um daraus Ordnung, Klarheit und Einfachheit zu schaffen.
6. Dialektisches Denken
Dialektisches Denken führt permanent zu einer Integration scheinbar widersprüchlicher Positionen, die sich auf einem (höheren) Niveau vereinen und weiterentwickeln. Gerade für politisch Handelnde kann diese Erkenntnis sehr fruchtbar sein, denn sie ermöglicht ein gemeinsames Angehen von Problemen über Parteien hinweg.
7. Konzeptualisierung
Unter Konzeptualisierung ist die Erstellung von kognitiven Schemata zu verstehen, die umfangreiche Informationen zu kompakten, handlungsmotivierenden Modellen bündeln
8. Denken und Glück aus Sicht der Philosophie
In der griechischen Antike die Befriedigung von Bedürfnissen als Quelle des Glücks hervorgehoben, wobei unterschieden wird zwischen niedrigeren und höheren Genüssen. Die wertvolleren Freuden werden dem Bereich des Denkens zugeordnet.
9. Projekt als glückgenerierende Struktur
Auf der Suche nach Aufgabenprofilen, die permanent Konzeptualisierung verlangen, hohe Potenziale zur Befriedigung der Grundbedürfnisse enthalten und gleichzeitig Flow-Gefühle dauerhaft induzieren stößt man rasch auf die Projektstruktur.
10. Die Globalisierung und die Ausdehnung der Konzeptualisierungsräume
Die Digitalisierung und die Globalisierung haben neue Räume eröffnet. Hier bietet sich an, das Internet metaphorisch als Makrohirn zu definieren und zu erkennen, dass die Menschen aufgrund der neuen Kommunikationsmöglichkeiten weltweit in raschen und stabilen Interaktionen treten können, wie dies Milliarden von Neuronen im Gehirn tun.
11. Konzeptualisierung als Grundbedürfnis und Menschenrecht
Die Glücksforschung führt zu der Erkenntnis, dass das menschliche Glück von der Befriedigung der von Maslow aufgelisteten Grundbedürfnisse abhängt. Allerdings wird bei Maslow das Denken (Informationsverarbeitung und Konzeptualisierung) nicht aufgeführt. Das liegt daran, dass die Neurowissenschaften erst in den letzten Dekaden die Funktionsweise des Gehirns ins Bewusstsein gerückt haben. Wenn das so ist, so müssten die Menschenrechte neu formuliert werden.
Neue Menschenrechte
Die „Erklärung der Menschenrechte“ wurde 1948 verfasst und unterlag anderen Prämissen als heute. Die Terminologie ist philosophisch und religiös geprägt. Dies ist an den unscharfen Begriffen zu erkennen. So ist das zentrale Konzept der Würde unbestimmt, eröffnet für unzählige Deutungen Raum und ist kaum operationalisierbar. Dies trifft auch zu für andere Kernbegriffe der aktuellen Menschenrechte wie Brüderlichkeit, Gleichheit, Gerechtigkeit. Ein Bezug auf die Grundbedürfnisse eröffnet andere Möglichkeiten für eine Umsetzung im Alltag und in der Gesetzgebung. Ist eine Glücksbedingung des Menschen die Reflexion und die Partizipation an der kollektiven Reflexion über die Zukunft der Menschheit, so müsste diese Tätigkeit an prominenter Stelle in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte stehen.
Meine Vorschläge hierzu:
(Unter jedem Abschnitt stehen die Nummern der Artikel aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die sich inhaltlich an den jeweiligen Text anbinden lassen):
Präambel:Glück
Ziel aller Maßnahmen weltweit ist die Schaffung von Strukturen (wirtschaftlichen, politischen, ethischen), die für ein Mehr an Entfaltung für die Natur und an Glück für alle Lebewesen sorgen. Die nachfolgenden Artikel bilden dazu Voraussetzungen.
Allg. Erklärung der Menschenrecht: entfällt
Artikel 1: Denken
Zentrales Grundbedürfnis des Menschen ist das Denken (Informationsverarbeitung und Konzeptualisierung).
Es müssen Bedingungen geschaffen werden, damit alle Menschen Zugang zu Informationen und zur Möglichkeit der Konzeptualisierung erhalten. Denken setzt die Realisierung der Artikel 2 bis 6 voraus.
Allg. Erklärung: Artikel 18, 19, 26, 27
Artikel 2: Gesundheit
Alle Maßnahmen sollen weltweit getroffen werden, damit Lebewesen ihre physiologischen Bedürfnisse (z.B. Schlaf, Hunger, Sexualität) befriedigen können. Mit der Natur als Reservoir wird sorgfältig und schonend umgegangen.
Allg. Erklärung: Artikel 24, 25
Artikel 3: Sicherheit
Es wird weltweit angestrebt, Strukturen zu schaffen, die für ein Maximum an Sicherheit für alle Lebewesen sorgen. Mit der Natur wird auch in diesem Zusammenhang schonend umgegangen.
Allg. Erklärung: Artikel 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 14, 15, 17, 22, 28
Artikel 4: Soziale Einbindung
Es wird weltweit dafür gesorgt, dass Lebewesen sich in einem sozial stützenden Umfeld bewegen können. Es sollen Strukturen geschaffen werden, die Selbstverwirklichung sozial unterstützen.
Allg. Erklärung: Artikel 1, 16, 20, 22, 25, 26, 27
Artikel 5: Selbstverwirklichung und Partizipation
Es ist weltweit dafür zu sorgen, dass Lebewesen alle ihre Potenziale zur Entfaltung bringen können. Dabei ist schonend mit der Natur umzugehen. Die Entfaltung des Einzelnen kann nur im Rahmen der ihn umgebenden Strukturen erfolgen. Es muss die Möglichkeit bestehen, Einfluss auf diese Strukturen zu nehmen, also teilzunehmen. Die Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass möglichst viele ihre intellektuellen, emotionalen und materiellen Ressourcen dafür zur Verfügung stellen.
Allg. Erklärung: Artikel 12, 13, 17, 18, 19, 20, 21, 23, 24, 25, 26, 27
Artikel 6: Sinn
Es wird weltweit dafür gesorgt, dass Lebewesen ihr Leben als sinnvoll und befriedigend empfinden können.
Allg. Erklärung: entfällt
Ein Vorteil dieser Neuformulierung der Menschenrechte besteht in ihrer Operationalisierbarkeit. Während „die Menschenwürde“ oder die „Freiheit“ wegen ihrer Abstraktheit schwer direkt einklagbar sind, lässt sich das „Recht auf gute Denkbedingungen“ leichter konkretisieren. So wird ein Inhaftierter, der keinen Zugang zu Informationen erhält, dem keine Arbeitsgruppe zur Verfügung steht, der geistig unterfordert wird, auf sein Recht auf Konzeptualisierung bestehen können. Dies gilt auch für eine große Anzahl von Berufstätigen, die keine intellektuelle Herausforderung an ihrem Arbeitsplatz erleben. Wenn die Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Information und Konzeptualisierung zum Menschenrecht erhoben wird, so verlangt es eine neue Organisation der Gesellschaft. Sie hat das Ziel, die aufkommenden Probleme lösen und eine bessere Welt schaffen.
12. Bürgerbeteiligung als Konzeptualisierungs- und Glücksfeld
Um die neudefinierten Menschenrechte in die Realität umzusetzen, müssen alle Menschen sich gesellschaftlich betätigen. Dabei können sie alle ihre Grundbedürfnisse, insbesondere das Bedürfnis nach Konzeptualisierung und nach Sinn befriedigen. Insofern ist Bürgerbeteiligung eine Glücksquelle.
Dokumente
Was braucht der Mensch, um glücklich zu sein?
Google-Scholar (Jean-Pol Martin)
Lernen durch Lehren: Youtube Videos
Wikipedia-Article „Learning by teaching“
Zugriffe auf „Learning by teaching“
Wir brauchen neue Menschenrechte (Artikel im Donaukurier)
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948)
6 Antworten zu “Ein Menschenbild für das 21.Jh.”
Anmerkungen zum Konzept
„Seit einigen Jahrzehnten haben die Gehirnforschung und die positive Psychologie neue Erkenntnisse über die Funktionsweise des Menschen gewonnen. Auf dieser Grundlage ist es möglich, ein neues, weltweit konsensfähiges Modell vorzuschlagen, auf das sich alle gesellschaftlichen Akteure beziehen können.“
Stimmt, sie können sich darauf beziehen. Und damit sie es tun, ist der Hinweis sinnvoll, dass es möglich ist, es tun zu können. Was aber, wenn sie es nicht wollen, wenn die bisherige Erkenntnislage den allgemeinen Interessen entspricht?
Die Frage stellt sich mir so: ist es einfach nur ein Erkenntnisproblem, dann würde jede neue Erkenntnis unmittelbar diese umsetzende Handlungen auslösen. Analog zur Industrie: jede Innovation wird sofort (und muss dies) eingesetzt werden, wenn sie der Rationalisierung des Prozesses und der Steigerung des Ergebnisses dient. Wenn es sich hier allerdings um ein Interessenproblem handelt, stellt sich die Frage anders. Man müßte sich fragen, wer hat ein Interesse daran, dass sich etwas ändert im Hinblick auf Glück und Selbstbestimmung und wer hat genau daran evtl kein Interesse. Wobei wir dann wieder bei der Frage wären, wer sich durchsetzen kann, also bei der Machtfrage.
Allerdings ohne eine Veränderung der Erkenntnislage wird die Frage nach Möglichkeiten und / oder Notwendigkeiten von Veränderungen nicht gestellt.
„Die wertvolleren Freuden werden dem Bereich des Denkens zugeordnet.“, kann man eigentlich in dieser Weise trennen zwischen Körper und Geist oder besser zwischen Materie (wie es verallgemeinernd und verschleiernd heißt) und Geist?
„…dass die Menschen aufgrund der neuen Kommunikationsmöglichkeiten weltweit in raschen und stabilen Interaktionen treten können, wie dies Milliarden von Neuronen im Gehirn tun.“, das in der Tat ist eine absolut neue Situation. Menschen können weltweit in rasche und stabile Interaktionen treten – was das Ende Einwegkommunikation bedeutet. Um diese Möglichkeiten nutzen zu können, wäre die Realisierung des obigen Modells sinnvoll und notwendig, geradezu eine Voraussetzung. Die Frage stellt sich, was hindert die Verwirklichung, wo doch die Notwendigkeit erkannt ist?
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Vielen Dank für Ihre konstruktive Reaktion.
„Allerdings ohne eine Veränderung der Erkenntnislage wird die Frage nach Möglichkeiten und / oder Notwendigkeiten von Veränderungen nicht gestellt.“
So ist es. Als Aktionsforscher habe ich nur eine Wahl: für mein Konzept zu werben. Nach Popper wird sich erweisen, wann mein Konzept falsifiziert wird.
„kann man eigentlich in dieser Weise trennen zwischen Körper und Geist oder besser zwischen Materie (wie es verallgemeinernd und verschleiernd heißt) und Geist?“
Die „wertvollen Freuden“ sind Adrenalin- und Hormonausschüttungen. Ich trenne also nicht zwischen Materie und Geist.
„Die Frage stellt sich, was hindert die Verwirklichung, wo doch die Notwendigkeit erkannt ist?“
Wir brauchen nur ein bisschen Geduld. Und die habe ich. Bevor solche Gedanken sich verbreiten, dauert es ein paar Jahrzehnte. Wenn man Glück hat! 🙂
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[…] Ausgangspunkt: Ein Menschenbild für das 21.Jh. […]
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Das klingt alles sehr spannend. und ja, es ist nur mit einer gesamtgesellschaftlichen Umwälzung realisierbar. Eine bloße Veränderung reicht da nicht… Stellt sich mir die nächste, ganz pragmatische Frage: wie lässt sich dieses Konzept im Kontext mit dem Faktor ZEIT realisieren? Denn die bräuchte die Gesellschaft ,um das Umzugsetzen. Der facto sind dann wieder all jene ausgeschlossen, die das jetzt auch schon sind: Menschen mit geringem Grundeinkommen, Alleinerziehende, Pflegende, Menschen mit Handicap…. Um.nur ein paar gängige Gruppen zu nennen
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Mit der Wählerliste „Neue Menschenrechte“ wird der Fokus auf zwei Themen gesetzt: 1.Bürgerbeteiligung 2. Schutz der Gruppen, die über keine Lobbys verfügen: prekär Beschäftigte, Pflegekräfte, alte Menschen mit geringen Renten. Flüchtlinge, Postboten, Arbeitslose…
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[…] Ein Menschenbild für das 21.Jh. […]
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